Die Auseinandersetzungen um die optimale Trassenführung eines Seekanals nahmen nach Gründung des Deutschen Reiches durch den 1878 von dem Hamburger Reeder Dahlström und dem Wasserbauinspektor Boden vorgelegten Plan konkrete Formen an. Die von ihnen vorgeschlagene Linienführung von Kiel über Rendsburg nach Brunsbüttel blieb Grundlage bei der Verwirklichung (s. Abb. 78). Sie bedeutet im Vergleich zur Umrundung von Kap Skagen eine Verkürzung des Weges um über 400 Seemeilen.
Die Absicht der von Bismarck geführten preußischen Regierung, die junge preußische Provinz Schleswig-Holstein militärisch zu stärken und strategische Stützpunkte in den Norden zu verlegen, trieb die Kanalpläne voran. Mit der Verlegung des Haupthafens der Reichsmarine im Ostseeraum in die Kieler Förde fiel sicherlich eine richtungsweisende Vorentscheidung. Im Jahr 1885 erwirkte Bismarck entgegen der Kritik des Generalstabchefs Helmut von Moltke, der in dem Pamphlet ”Rede gegen den Kanalbau” die militärisch-strategische Bedeutung des Kanals anzweifelte, die Unterzeichnung des ”Gesetzes betr. die Herstellung des Kanals” durch Kaiser Wilhelm I. Die Kaiserliche Kanal-Kommission konnte daraufhin mit der Projektdurchführung beginnen.
Am 03. Juni 1887 erfolgte in Kiel-Holtenau die Grundsteinlegung durch Kaiser Wilhelm I. In den folgenden acht Jahren waren bis zu 8.900 Arbeiter mit dem Aushub einer ca. 100 km langen, 67 Meter breiten und neun Meter tiefen Rinne (s. Urquerschnitt 1, Abb. 79) beschäftigt. Insgesamt wurden dabei ca. 80 Mio. Kubikmeter Erdreich bewegt.
Obwohl man mit Aushub der Rinne auf mittlerer Höhe des Meeresspiegels einen reinen Durchstichkanal ohne ”Treppen” schaffte, mußte dieser sowohl zur Nordsee- als auch zur Ostseeseite hin durch Schleusenanlagen in Brunsbüttel und Kiel-Holtenau gegen die erheblichen Wasserstandsschwankungen geschützt werden. Nach Fertigstellung dieser zwei Schleusen konnte am 21. Juni 1895 die feierliche Schlußsteinlegung unter Anwesenheit von Kaiser Wilhelm II. und einer internationalen Flotte zelebriert werden. Der Kaiser-Wilhelm-Kanal, der erst 1948 in Nord-Ostsee-Kanal umbenannt wird (im internationalen Sprachgebrauch Kiel-Canal), war damit eröffnet. Die eingeplante Investitionssumme von 156 Mio. Goldmark wurde in dieser achtjährigen Bauphase und durch Folgekosten wie neue Brunnensysteme zum Ausgleich des abgesackten Grundwasserspiegels sowie ersten Verkehrsanbindungen von Hoch- und Drehbrücken nicht überschritten.
Durch das zunehmende Verkehrsaufkommen und den Bau von Großkampfschiffen nach englischem Vorbild wurde schon nach kurzer Zeit eine erste Erweiterung des Kaiser-Wilhelm-Kanals auf 102,5 Meter Breite und elf Meter Tiefe (s. Querschnitt 2, Abb. 79) sowie der Bau größerer Schleusenkammern nötig. Mit Kosten von 242 Mio. Goldmark wurde diese erste Erweiterung erheblich teurer als der ursprüngliche Bau des Kanals.
In einer zweiten Erweiterungsphase, die noch nicht abgeschlossen ist, wird versucht, durch erneute Verbreiterung des Kanals auf 162 Meter der mit steigenden Passagezahlen und Schiffsgrößen zunehmenden Erosion der Unterwasserböschung entgegenzuwirken und damit den Verkehr sicherer und schneller abzuwickeln (s. Querschnitt 3, Abb. 79). Ab Kanalkilometer 87, d.h. auf dem Ostabschnitt des Kanals, sorgt der anstehende Geschiebemergel für eine ausreichende Festigkeit des Kanalbetts, so daß hier voraussichtlich zunächst keine Sicherungs- und Ausbaumaßnahmen erforderlich sein werden. Die Kosten der zweiten Erweiterung werden bisher auf ca. 950 Mio. DM geschätzt.
Der Nord-Ostsee-Kanal ist heute - 100 Jahre nach seiner Eröffnung - die meistbefahrene künstliche Wasserstraße der Welt. Er gilt als Hauptverkehrsader Nordeuropas, die als Tor zur Ostsee Skandinavien und die Baltischen Staaten an den Weltverkehr anschließt. Tag und Nacht passieren ihn über das Jahr verteilt über 43.000 Schiffe. Einen maßgeblichen Anteil haben dabei Handelsschiffe. Passagen von Sport- und Kleinfahrzeugen werden in einer gesonderten Statistik mit über 18.000 beziffert.
Interessant ist ein Vergleich des Nord-Ostsee-Kanals mit zwei der wichtigsten Welthandelsstraßen, dem Panama-Kanal als Verbindung von Karibischem Meer und Pazifik sowie dem Suez-Kanal zwischen Mittelmeer und Rotem Meer:
Länge in km Schiffspassagen 1993 Gütertonnen 1993 NOK 98,637 43.264 57.724.787 Panama-Kanal 81,5 12.192 163.080.000 Suez-Kanal 161,0 17.062 296.914.000
Das Verhältnis von Gütertonnen zur Zahl der Schiffspassagen dokumentiert die unterschiedliche Nutzungsstruktur. Liegt die durchschnittlich pro Schiff transportierte Gütermenge im Nord-Ostsee-Kanal bei ca. 1.334 Tonnen, wurden bei der Durchfahrt durch den Panama-Kanal im Schnitt mehr als die zehnfache, beim Suez-Kanal mehr als die dreizehnfache Gütermenge transportiert.
Der Einfahrt in die Schleuse und damit in den Nord-Ostsee-Kanal gehen detailliert geregelte Anmeldeformalitäten voraus. Schon im Abgangshafen werden die sogenannten Klarierungspapiere vorbereitet und fernmündlich technische Angaben über das Schiff sowie die Ladung vom Reeder an den Schiffsmakler weitergegeben. Zum einen muß anhand dieser Papiere die Einhaltung der technischen Zulassungen überprüft werden. Die maximale Schiffsabmessung ist mit einem Tiefgang von neun Metern, einer Länge von 235 Metern und einer Breite von 32,5 Metern festgelegt. Wichtig ist auch, daß eine Höhe von 40 Metern über dem Wasserspiegel nicht überschritten wird, um die zahlreichen Hochbrücken für den kreuzenden Schienen- und Straßenverkehr ohne Schaden passieren zu können. Des weiteren dienen die Klarierungspapiere zu Abrechnungszwecken sowie zur Organisation der Verkehrslogistik. Nach Abwicklung dieser Formalitäten und einer Schleusungszeit von ca. 45 Minuten beginnt die 6,5 bis 8,5 stündige Kanalpassage, für die je nach Schiffstyp Höchstgeschwindigkeiten zwischen 6,5 Knoten (12 km/h) und 8,1 Knoten (15 km/h) zulässig sind.
Die Verkehrslogistik auf dem Nord-Ostsee-Kanal wird durch 24 Verkehrslenker in den Verkehrszentralen in Holtenau und Brunsbüttel nach einem System gesteuert, das die Schiffe nach Größe und Ladung in Verkehrsgruppen von 1 bis 6 einstuft. Verkehrsgruppe 6 erfaßt dabei die größten Schiffe bzw. die gefährlichsten Transporte (z.B. Tanker und Containerschiffe). Je nach Ausbauzustand des Kanals wurden für die jeweiligen Streckenabschnitte sogenannte Begegnungsziffern ermittelt. Schiffe, deren addierte Verkehrsgruppenzahl die Zahl 6 überschreiten, dürfen sich nur in einer der zwölf Weichen begegnen (s. ”Verdickungen” Abb. 78). Für Überholvorgänge gilt die maximale Begegnungsziffer 5. Auf Basis der Klarierungspapiere ermitteln die Verkehrssteuerungsstellen entsprechende Schiffsverkehrsdiagramme, um halbstündig den aktuellen Verkehrslagebericht an die Schiffe durchgeben zu können.
Zusätzlich zu dieser allgemeinen Verkehrskategorisierung und -überwachung unterliegen die Schiffe einer strikten Lotsenverordnung. Ungewohnte hydrodynamische Kräfte (Sogwirkung) sowie Ein- und Ausfahrt in die Schleusenkammern erfordern ein besonderes Steuerungsgeschick und gute Streckenkenntnisse. Aus diesem Grund besteht für Schiffe ab 3,1 Meter Tiefgang bzw. ab einer bestimmten Schiffsgröße die Lotsnahmepflicht. Nachdem ein Schleusenlotse beim Schleusungsvorgang Hilfestellung geleistet hat, steigt bei der Einfahrt in den Kanal ein Kanallotse zu, der das Schiff bis Kanalkilometer 54 betreut. Dort erfolgt an der Versetz- bzw. Lotsenstation Rüsterbergen ein ”Wachwechsel”, ein neuer Lotse übernimmt den zweiten Teil der Kanalpassage. Bei Schiffen ab 2.500 BRT gehen zusätzlich zwei Kanalsteuerer an Bord.
Da der Nord-Ostsee-Kanal das Land Schleswig-Holstein von Südwesten nach Nordosten ”zerschneidet”, muß nicht nur auf dem Wasser der reibungslose Verkehrsfluß gewährleistet sein, sondern auch an Land für ausreichende Querungen über den Kanal für Schienen- und Straßenverkehr gesorgt werden. Seit der zweiten Erweiterungsphase wird in entsprechenden Arbeitsprogrammen der Landesregierung ein Maßnahmenkatalog der großen Investitionsaufgaben im Verkehrsbereich, besonders im Ausbau der großen Nord-Süd-Linien von überregionaler Bedeutung, umgesetzt. Inzwischen stehen 13 freifahrende Fähren, eine Schwebefähre, je ein Straßen- und Fußgängertunnel, vier Straßenhochbrücken, zwei Eisenbahnhochbrücken, zwei kombinierte Eisenbahn- und Straßenhochbrücken sowie zwei Autobahnhochbrücken zur Verfügung.
Der Nord-Ostsee-Kanal ist mit einer Kostendeckungsrate von 30 bis 40 % ein ”Zuschußgeschäft”. Dreistellige Millionenbeträge, die von Personal-, Verwaltungs- und Instandhaltungskosten verschlungen werden, können durch die Einnahmen nicht aufgefangen werden. Kontinuierlich sinkende Schiffs-, Bruttoraum- und Tonnagezahlen führten 1993 zu einer Senkung der Kanalgebühren um 10 % sowie zur Einführung neuer Rabattstaffeln für Vielfahrer. Eine Kanalpassage kostet beispielsweise für Schiffe von 500 BRT (klein) ca. 1.500 DM, für eine mittlere Kategorie von 2.500 BRT 3.000 DM und für Schiffe mit 12.000 BRT ca. 8.000 DM.
Auch in betriebswirtschaftlicher Hinsicht lohnt sich ein Vergleich zwischen der Kosten-Nutzen-Relation des Nord-Ostsee-Kanals und der Welthandelsstraße Panama-Kanal:
Auf der Strecke Hamburg-Rostock spart ein Reeder mit der Passage durch den Nord-Ostsee-Kanal bei einer Zeitverkürzung von 1,5 Tagen und einer Verringerung der Strecke um 430 Seemeilen ca. $ 27.000. Durch Nutzung des Panama-Kanals auf der Strecke Hamburg-Peru bedeutet die Kanalnutzung eine Ersparnis von 9 Tagen, 4.000 Seemeilen und ca. $ 162.000. Es ist zu vermuten, daß sich die größeren gebotenen Vorteile auch auf die für die Kanalpassage erhobenen Gebühren und damit auf die Rentabilität positiv auswirken.
Nicht zu unterschätzen ist jedoch der gesamtwirtschaftliche Nutzen, durch den die betriebswirtschaftlichen Defizite überkompensiert werden: Der Nord-Ostsee-Kanal sichert ca. 2.500 Menschen direkte Beschäftigung und ist impulsgebend für die Entwicklung der Wirtschaftsstandorte Brunsbüttel (Chemie), Rendsburg (Binnenhafen, Werft Nobiskrug) und Kiel (Seehafen, HDW). In der Wirtschaftsregion Schleswig-Holstein übernimmt der Nord-Ostsee-Kanal darüber hinaus bedeutende Funktionen in der Wasserwirtschaft als Großvorfluter sowie im Bereich Freizeit- und Fremdenverkehr als interessantes und attraktives Erholungsgebiet.
Ahlert, B.: Das "Blaue Band" durch Schleswig-Holstein, in: Von Meer zu Meer - 100 Jahre Nord-Ostsee-Kanal. Rendsburg 1995.
Beseke, C.: Der Nord-Ostsee-Kanal - Seine Entstehungsgeschichte, sein Bau und seine Bedeutung, Nachdruck der Ausgabe von 1893. St. Peter Ording 1982.
Der Bundesminister für Verkehr: Verkehrsnachrichten - Von Rendsburg nach Holtenau. Heft 10, 1984.
Flügel, H. / Freiwald, K.-H.: 75 Jahre Kaiser-Wilhelm-Kanal. Rendsburg 1970.
Horstmann, R.: Von der Ostsee bis zur Elbe - Eine landeskundliche Wanderung entlang des Nord-Ostsee-Kanals. Neumünster 1990.
Jensen, W.: Der Nord-Ostsee-Kanal. Neumünster 1990.
Landesvermessungsamt Schleswig-Holstein (Hrsg.): Topographischer Atlas Schleswig-Holstein und Hamburg. Neumünster 1979.
Wasser- und Schiffahrtsdirektion Nord (Hrsg.): Der Nord-Ostsee-Kanal. Kiel 1994.
Zeitungsartikel zum Kanaljubiläum März bis August 1995